Feindpropaganda. Antinazi-Dokumente im Bestand E 39 "Stürmer"-Archiv

Hitlerhampelmann gegen die Unterstützung Deutschlands

Richard Roiderer 1939 auf dem Broadway in New York (Stadtarchiv Nürnberg E 39 Nr. 1049/16)

 

Wie gelangte das Foto eines Demonstranten, der wohl im Frühjahr 1939 Hitler als Papp-Hampelmann über den Broadway in New York trägt, ins Stadtarchiv Nürnberg?

Die Antwort ist überraschend: Als 'Fanpost' eines deutschen Lesers an die Redaktion des Hetzblattes "Der Stürmer", der die Aufnahme bei einem Besuch in den USA gemacht hatte. Die Nazis hoben das Bild und ein weiteres des amerikanischen Antifaschisten Richard Roiderer (Signaturen: E 39 Nr. 1049/15 & 16) für eine spätere propagandistische Verwertung auf und dokumentierten so nicht nur in diesem Fall die Aktivitäten ihrer Gegner - ein überraschender Auswertungsaspekt des Bestandes, der sonst meist nur für Forschungen über den krankhaften Antisemitismus des "Stürmer"-Herausgebers Julius Streicher und seiner Mitarbeiter herangezogen wird.

Als Folge finden sich in E 39 u.a. Plakate und Flugblätter der demokratischen Parteien aus der Zeit der Weimarer Republik oder der Exil-SPD in der Tschechoslowakei nach 1933, umfangreiches Material über die "Ligue Internationale Contre l’Antisémitisme" (LICA / Internationale Liga gegen den Antisemitismus) und antinazistische Karikaturen aus ausländischen Zeitungen. Zu derselben Gruppe hier nicht zu erwartender Unterlagen zählen alliierte Flugblätter aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg.

Beim Foto des deutschstämmigen Richard Roiderer (1894 - 1964) dürfte es sich um eines der wenigen erhaltenen Zeugnisse seines Ein-Mann-Feldzuges gegen den Nationalsozialismus überhaupt handeln. Als erster US-Bürger wurde er im April 1935 vor dem Volksgerichtshof in Berlin der Spionage angeklagt und kam erst nach zehn Monaten Einzelhaft frei, als die Unhaltbarkeit der Vorwürfe gegen ihn feststand. Nach der Rückkehr in seine Heimat entfaltete er in Aktionen wie der hier abgebildeten, Vorträgen und als Publizist eine fast schon missionarische Werbetätigkeit unter seinen Landsleuten für einen politischen und wirtschaftlichen Boykott des "Dritten Reichs", blieb aber damit bis zur Kriegserklärung Deutschlands an die Vereinigten Staaten am 7. Dezember 1941 ein recht einsamer "Rufer in der Wüste", so auch bei seinem spektakulären Auftritt im Juli 1936, als er allein am Überseepier des New Yorker Hafens gegen das Ablegen des Schiffes demonstrierte, das die amerikanische Mannschaft zu den Olympischen Spielen nach Nazideutschland bringen sollte. Am 20. Juni 1941 marschierte er mit einer der gezeigten ähnlichen Anti-Stalin-Figur vor dem Weißen Haus in Washington auf und ab, um den Hitler-Stalin-Pakt anzuprangern - zwei Tage später überfiel die Wehrmacht die Sowjetunion.

Für den Inhalt des "Stürmer"-Archivs ergibt sich also der paradoxe Befund, dass hier von den Nazis Spuren der Organisationen und Menschen, die sie verfolgten und ausschalten wollten, für die Nachwelt erhalten wurden - ein kleiner nachträglicher Sieg über das totalitäre Regime, von dem die Geschichtswissenschaft über Nürnberg hinaus profitieren sollte.

 

Eine ausführlichere Bestandsbeschreibung bietet folgender Aufsatz:

Das "Stürmer"-Archiv: "Für Nürnberg und das Stadtarchiv ohne jedes Interesse". In: Stadtarchiv Nürnberg (Hg.): NORICA. Berichte und Themen aus dem Stadtarchiv Nürnberg. Heft 2, Nürnberg 2006, S. 43 - 51 (zur Online-Fassung: Norica 2).

Kommentieren